Sommerschule in Riga 2023
Diesen Sommer verbrachten Osteuropa-Studierende der Universitäten Basel, Bern, Zürich, Freiburg und Lausanne vier Wochen in Riga. Neben dem morgendlichen Russischunterricht erkundeten sie die Geschichte, Kultur und Kulinarik der lettischen Hauptstadt, wobei in jeder Woche ein anderes Thema im Fokus stand. In der ersten Woche statteten die Studierenden dem Art Nouveau Quartier und einem alten sowjetischen Bunker einen Besuch ab, während in der zweiten Woche wissenschaftlicher Vorträge gehorcht und theatralischen Vorstellungen beigewohnt wurde. In der dritten Woche war der Schwerpunkt auf der Geschichte des 'alten Lettland' und in der letzten Woche die Beschäftigung mit lettischen Schriftsteller:innen und deren (un)sichtbarem Wirken in der Stadt. Über ihre Erlebnisse in diesen Wochen verfassten die Studierenden aus Basel einen kurzen Blogbeitrag, den du hier lesen kannst.
-
Erste Woche in Riga (9. Juli bis 16. Juli 2023)
Kurzer Einblick in die Sprachkurse
Am Montag, dem 10. Juli, starteten wir in unseren Rigaer Alltag. Um 09.00 Uhr begann der Unterricht. Zuvor wurden drei Gruppen basierend auf unserem Sprachniveau gebildet und wir diesen zugeteilt worden. Unser Dozent für die erste Woche Oleg startete mit uns ins Thema Kulinarik. Wir lernten interaktiv und à haute voix die Vokabeln und arbeiteten in Kleingruppen mündlich mit dem neuen Vokabular. Selbst formulierte Fragen und Antworten, Gespräche rund um Lebensmittel, Zubereitungsarten, Gastronomie und Haute Cuisine. Eine Besonderheit von Olegs Unterricht war die Bedeutung, die er der Arbeit mit Wortstämmen beimass. Oftmals wenn wir neues Vokabular lernten, nahm Oleg die Stämme einzelner Wörter und zeigte uns, wie dieser mit Prä- und Suffixen zu anderen Wörtern umgeformt werden können, die die Bedeutung des Stammes noch immer in sich tragen. Dabei fiel auf, dass viele auf den ersten Blick unbekannt erscheinende Wörter nicht zwingend neu waren, sondern dass wir ihnen in ihrem Stamm bereits begegnet waren. Wortstämme können das Erschliessen neuen Vokabulars also massiv vereinfachen. Da der Fokus im Allgemeinen auf dem mündlichen Element lag, nahm dieser auch die meiste Zeit ein. Nach intensiven Gesprächen auf Russisch gab es vor dem Mittag aber auch noch Arbeitsblätter mit Aufgaben zur Grammatik der russischen Sprache, die die thematische Linie der Kulinarik weiterzogen. Um 12:00 Uhr teilte Oleg die Aufgaben aus, die wir zu Hause zu lösen hatten und danach endete unsere erste Unterrichtseinheit und wir gingen in die Mittagspause. Der Sprachunterricht wird im Verlauf der vier Wochen in Riga in diesem morgendlichen Rhythmus durchgeführt.
Exkurse
Am Nachmittag stand ein geführter Architekturrundgang Rigas auf dem Plan. Wir versammelten uns an der Alberta iela (Albertstrasse) im Zentralbezirk Rigas. In diesem reihen sich eine Vielzahl an prächtigen Jugendstilbauten, die von Michail Eisenstein, dem Vater des Regisseurs Sergei Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin, Oktober, Alexander Newski) anfangs des 20. Jahrhunderts konzipiert wurden, aneinander. Unser Guide informierte uns auf Russisch über die Geschichte und die Symbolik, die den Bauten innewohnte. Die mit etlichen kleinen Details ausgeschmückten Fassaden waren ohne die Hilfe unseres Guides nur schwer zu interpretieren. Die Bedeutung der vielen Büsten, den flügelartig-ondulierenden Formen, Tieren, Fabelwesen und den sonstigen Bezügen zu Mythologie wurden uns sachlich nähergebracht.
Nebst den Jugendstilbauten sahen wir uns auch Gebäude Eižens Laubes an. Er konzipierte seine Entwürfe im nationalromantischen Stil und orientierte sich in seinen späteren Designs auch häufig an neoklassizistischen Ideen. Laubes Fassaden erschienen zurückhaltender und simpler als diejenigen Eisensteins, doch waren noch immer viele Charakteristika des Jugendstils vorhanden, diese waren aber auf eine subtilere Art präsentiert als es bei Eisensteins Gebäude der Fall war. Um 18.30 Uhr endete unser Rundgang und wir machten uns ans Abendessen.
Am Donnerstagmorgen, den 13. Juli, fuhren wir mit dem Car in Richtung Ligatne, wo wir eine Bunkeranlage unter einem Reha-Zentrum besichtigten. Dieser war zum Schutz der politischen Elite Lettlands im Falle eines Atomkrieges gebaut worden und unterlag noch bis 2003 der Geheimhaltung. Die charismatische Tour-Leiterin führte uns mit viel trockenem Humor durch die engen Gänge und Zimmer und wir bestaunten die immer noch gut erhaltenen Überbleibsel des alten Systems.
Wieder an der frischen Luft spazierten wir noch ein bisschen durch die angrenzenden Wälder, bis es mit dem Car wieder weiter ging. Unser nächster Halt war ein Landhaus namens Karlamuiza Country Hotel, wo wir reichhaltig verpflegt wurden. Auf dem Rückweg legten wir einen Stopp bei einem Aussichtspunkt ein, bevor wir schliesslich erschöpft wieder nach Riga zurückkehrten.
Samstag, den 15. Juli, bekamen wir schliesslich noch die Aufgabe, ein kurzes Video über unseren Aufenthalt zu drehen. Mit viel Freiraum und Kreativität entstanden so die verschiedensten Videos. Wir besuchten zu diesem Zweck noch das KGB-Museum, das in ihrem ehemaligen Hauptquartier im «Eckhaus» eingerichtet wurde. Andere Gruppen besichtigten die Stadt und gingen in Okkupationsmuseum.
Am Abend folgte dann die Präsentation der Videos und daraufhin für einige schon der schwere Abschied, da am nächsten Morgen für einige die Heimfahrt auf dem Programm stand.
Adriano Correnti und Manuel Basler
-
Zweite Woche in Riga (17. Juli bis 23. Juli 2023)
Am Montag, den 17. Juli, war der Treffpunkt um 8:00 im «Mamkafe». Dort gab es eine kleine Vorstellungsrunde und dann wurden die Unterrichtsgruppen nach dem Sprachniveau eingeteilt. Ausserdem wurde eine kleine Theatergruppe für einen Theaterworkshop gebildet. Nach dem Unterricht gingen wir zusammen auf den Markt. Dort assen wir ein Stück des baltischen Honigkuchens «Medus» und tranken frischen «Kvass».
Nach dem Unterricht am Dienstag, 18. Juli gingen wir in einem georgischen Restaurant Mittagessen. Danach machten wir uns auf den Weg in die russische Bibliothek «Novaya Riga». Dort hielt Anastassia de la Fortelle, die Slawistik Professorin der Universität Lausanne, einen Vortrag zum Thema «Erinnerungsstrategien in der postsowjetischen Kultur». Um 19:00 führte die Theatergruppe unter der Leitung von Maria Bambulaka ein interaktives Playback Theater auf. Das Theater wurde in mehreren Sprachen eingeübt und aufgeführt. Es wurde Russisch, Englisch, Spanisch, Deutsch und Französisch gesprochen. Nach dem Unterricht am Mittwoch, 19. Juli spazierten wir in der Altstadt Rigas. Dabei entdeckten wir das «Parunāsim kafe'teeka», ein wunderschönes Café in der Altstadt. Abends gingen wir im Restaurant «ARMENIA» essen.
Lea Brunnschwiler
Am Donnerstagmorgen, 20. Juli fuhren wir alle mit dem Zug zur Destination unseres ganztägigen Ausflugs: Jurmala. Diese Stadt liegt an der Küste des baltischen Meeres und war während der UdSSR ein populärer Ferienort für die sowjetische Elite, angesehener Kurort und Schauplatz diverser Fernsehprogramme. Nach einer 40-minütigen Zugfahrt tauchten wir mit unseren Tourguide ein in die Welt der Dachas. Sie führte uns durch die Strassen Jurmalas und zeigte uns diverse Baustile der Ferienhäuser, erklärte wie die typischen Dacha Ferien verlaufen und wie es sich mit dem Fall der Sowjetunion verändert hatte. Unter anderem sahen wir uns auch die örtliche Kirche und ein Denkmal an, was der Schriftstellerin Aspazija gewidmet ist, die sie majestätisch über das baltische Meer blicken lässt.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen hatten wir individuelle Zeit, um Jurmala selbst zu erkunden. Die meisten gingen an den öffentlichen Strand und wagten sich ins kalte baltische Meer hinein. Danach ging es am Nachmittag individuell wieder zurück nach Riga, somit könnten alle nach Lust und Laune so viel Zeit in Jurmala verbringen wie ihnen lieb ist.
Am Tag darauf, Freitag, den 21. Juli, hatten wir wieder normalen Sprachunterricht am Morgen. Um 15:00 trafen wir uns alle vor der Nationalbibliothek Lettlands, wo eine kleine Führung für uns organisiert wurde. Die Bibliothek befindet sich in einem enormen, dreizehn stockigen Gebäude, welches schon von der anderen Seite des Flusses unübersehbar ist und unter dem Namen ‚Castle of Light‘ bekannt ist. Den Beinamen verdankt das Gebäude der eindrücklichen Glasfassade. Mit unserer Führung genossen wir die Aussicht über ganz Riga aus dem obersten Stockwerk (siehe Bild). Danach konnten wir uns in der Bibliothek frei bewegen und die diversen Etagen und zahlreiche Ausstellungen besuchen, welche die Nationalbibliothek zu bieten hat. Eine dieser Ausstellungen gab Einblick in die lettische Literatur und deren Rolle auf der internationalen Ebene.
Celia Hubmann
-
Dritte Woche in Riga (24. Juli bis 30. Juli 2023)
Da Regen und kühle Temperaturen unter 20 Grad angesagt waren, verzog man sich eher in die Museen als dass man den «Bastejkalna parks» entlang des Flusses besucht hätte. Eines der grösseren Museen Rigas ist das «Museum of the Occupation of Latvia», welches sich mit der Geschichte Lettlands zwischen 1940 und 1991 befasst. Das Museum, welches von seiner Gestaltung her an das «Holocaust Museum» in Washington D.C. gemahnt, erzählt die ‘lettische nationale Geschichte’ in einem für ‘Nationalgeschichten’ typischen Muster: Auf eine glorreiche Vergangenheit (lettische Unabhängigkeit nach dem 1. Weltkrieg) folgt eine düstere Zeit der Unterdrückung (die Zeit unter den Nationalsozialisten Deutschlands, ebenso wie die Zeit als Unionsrepublik der Sowjetunion), welche durch ein neues Wiedererstarken der Nation überwunden werden kann (die erneute lettische Unabhängigkeit nach 1991). Diese Dreiteilung wird durch Farbe, Architektur und Licht unterstützt. Während die Wände im ersten Teil der Ausstellung weiss gemalt und das Licht hell ist, folgt ein Ausstellungsteil mit schwarz bemalten Wänden und schwachem, teilweise blauem, teilweise rotem Licht – die dunkle Zeit zwischen 1940 und 1991. Begleitet wird man auf der eigenen Reise durch die Zeit von einem Plüschbären mit dem Namen ‘Miks’, welcher auf jeder Station der Geschichte, welche das Museum erzählt, auf Kinderhöhe eine Box mit kurzem Begleittext erhielt. So zum Beispiel wird er gezeigt als einer der Lett:innen, welcher mit einem Güterwaggon in ein Gulag transportiert wurde. Der Begleittext beschreibt, dass Miks kalt habe und es den Besucher:innen möglich ist, ihn zu wärmen, wenn man die Box berührt, in der er sitzt. Folgt man dieser Aufforderung, geht eine Wärmelampe an und Miks wurde durch die Interaktion mit den (jüngeren) Besucher:innen gewärmt. Angekommen im Jahre 1991 erklimmt man eine Treppe und kommt auf eine höhere Ebene, welche erneut mit hellem, schon fast grellem Licht beleuchtet und mit weisser Farbe bemalt ist – die Unabhängigkeit ist wiedererlangt! Auch der ständige Begleiter Miks fehlt dort nicht. Man findet ihn in einer Box, die mit einem roten Film überzogen ist. Die Beschreibung fordert die Besucher:innen auf, den Film zurückzuziehen und zu sehen, dass Miks gar nie ‘Rot’ war. Der Abschluss der Ausstellung bildet ein weisser Schriftzug auf weissem Grund, der nur durch die Beleuchtung durch weisses Licht sichtbar ist: «From the labyrinth of darkness leads the road to light again.» Also eine Beschreibung des Weges, welcher sowohl ‘die lettische Nation’ als auch die Besucher:innen durchschritten haben.
Am Tag nach dem Besuch dieses informativen und mit einer klaren Idee gestalteten Museums kamen die verschiedenen Fraktionen erneut zur grossen Gruppe zusammen und begaben sich auf eine Exkursion durch das ‘alte Riga’. Geführt von einem lokalen Historiker begaben wir uns in alte Quartiere Rigas, deren Strassennamen teilweise sowohl auf Lettisch als auch auf Deutsch und Russisch angeschrieben waren und aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen. Auf der Führung kamen wir an einer typischen Wohnung vorbei, deren einzelne Zimmer so eingerichtet wurden, wie sie möglicherweise in verschiedenen Jahrzehnten zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert ausgesehen haben könnten. Das Ende der Exkursion führte uns in den Innenhof eines Blocks aus der Zeit der Sowjetunion, welcher sich, wie uns der Historiker erzählte, in einem eher baufälligen Zustand befindet, da sich die einzelnen Wohnungsbesitzer:innen nur selten alle zusammen finden (können), um über Renovationen abzustimmen. Eine ältere Frau, welche unser Exkursionsleiter auf lettisch begrüsste, dessen Schilderungen auf Russisch lauschte und danach mit einzelnen Personen der Gruppe auf Deutsch sprach, bestätigte das vom Historiker gesagte mit einem stillen Kopfnicken.
Micha Silas Steiner
Am Donnerstag, dem 27. Juli 2023, genau eine Woche nach meiner Ankunft in Riga, wurden alle Teilnehmende des Programmes um 9:00 von einem Reisebus erwartet. Unser Ziel war das Музей Пастариньша (Pastariņš Museum). Nach etwa anderthalbstündiger Fahrt erreichten wir einen geräumigen Gutshof mit weitläufigem Garten und Apfelbäumen, auf dem wir von einer traditionell gekleideten Frau empfangen wurden. Angekündigt worden war uns ein Kurs in der Kunst des Brotbackens. In der Folge erzählte die Leiterin vom Schriftsteller, der auf dem Hof aufgewachsen war, und animierte uns zu verschiedenen, zum Thema Brot passenden Spielen und gar zum Singen. Die Tour führte sowohl durch den Garten als auch durch die verschiedenen Gebäude und endete an einer Feuerstelle, an der unsere Leiterin sogleich ein Feuer entfachte. Wenig später wurde uns frisches Brot und Butter serviert, an denen wir selbst wenig vorher mitgewirkt hatten. Die Atmosphäre dieses Gutshofs zu spüren, war für mich eine wertvolle Erfahrung.
Am Freitag und Samstag hatten wir nochmals Sprachunterricht, einmal in klassischer und einmal in spielerischer Form. Daneben gab es keine weiteren «offiziellen» Programmpunkte, doch stand es im Rahmen unserer tollen Gruppendynamik jedem frei, am gemeinsamen Kino- und Restaurantbesuch teilzunehmen oder in Jūrmala bei alkoholischen Getränken den Sonnenuntergang zu beobachten.
Nicki Rohrbach
-
Vierte Woche in Riga (31. Juli bis 6. August 2023)
Woody Allen in Riga – oder Theater in Zeiten von Krieg
Theater als kulturelle Institution dient der Unterhaltung und der Bildung des Publikums und bildet aktuelle gesellschaftliche Zustände ab oder nimmt gesellschaftliche Entwicklungen vorweg. Beides lässt sich im Kleinen wie in familiären Konstellationen oder in grösseren Kontexten wie staatlichen Herrschaftsformen ausmachen und darstellen. Dabei kann der kleine Kreis als Beispiel für das Grosse verstanden und umgekehrt kann vom Öffentlichen auf das Private geschlossen werden. Und was haben Woody Allen und sein Theaterstück „Central Park West“ mit Riga, Russland, russischer Sprache, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem zunehmend zu beobachtenden Phänomen, alles, was eine Person oder Personengruppe zu stören scheint, aus dem öffentlichen Blickfeld zu verbannen, zu tun?
Lug, Betrug, Untreue, Neid, Eifersucht, Verrat, Schein statt Sein, Rache, Vergeltung - all das bietet die Aufführung von „Central Park West“ von Woody Allen aus dem Jahre 1995 am Beispiel zweier befreundeter und mehr oder weniger gut situierter Ehepaare mittleren Alters inmitten New Yorks Manhattan. Warum ist diese Aufführung in Riga im Sommer 2023 so aussergewöhnlich?
Die Aufführung in russischer Sprache mit englischen und lettischen Übertiteln wird immer wieder mit dem Beatles-Song „Come together“ unterlegt, dargeboten vom Sänger einer Live-Band – ein Kontrapunkt zum Auseinanderdriften der Beziehungen der Protagonisten. Die Aufführung endet mit dem gemeinsamen Singen von Tom Jones „Delilah“, einem Hit aus den Ende 1960er Jahre, mittlerweile wegen seines Textes verpönt, da ein betrogener Mann aus Eifersucht und deswegen von Sinnen seine Frau attackiert. Herausragend und bewegend ist jedoch das, was ein Sprecher vor Beginn der Aufführung vorträgt: Das Michail Tschechov-Theater sei ein russisches Theater und wolle auch in Zukunft trotz des Krieges Russlands gegen die Ukraine weiterhin russisches Theater sein und bleiben. Die Russen Lettlands seien in keiner Weise für den Krieg Russlands gegen die Ukraine verantwortlich. Die Aggression und der Krieg Russlands gegen die Ukraine werde aufs Schärfste verurteilt, und es sei zu hoffen, dass dieser Krieg bald enden möge. Das Michail Tschechov-Theater wurde 1883 gegründet und gilt als ältestes russischsprachiges Drama-Theater ausserhalb Russlands. Nicht nur ist zu hoffen, dass dieser zerstörerische Krieg, der in unzählige Familien unendliches Leid gebracht hat, bald enden möge, sondern auch, dass das Michail Tschechov-Theater in Riga weiterhin bestehen kann und auf seine Weise zum Frieden beiträgt.
Annegret Katzenstein
5. August 2023
Wir setzen uns nach draussen, vor der Laska Bar sind Bänke angebracht, die durch die Anordnung auf Podeststufen die Besucherinnen dazu zwingt, nahe an den anderen sitzenden Gästen vorbeizugehen, möchte man an eine Bank weiter hinten gelangen. Links neben uns zwei Männer, die sich auf Russisch unterhalten, ansonsten sind wir unter uns. Der Tag war lange, wir aber noch nicht bereit zu gehen – die Hinterbliebenen am letzten Abend in Riga. „Wie war Riga für dich?“, eine sehr offene und unbestimmte Frage.
Zögernd: „Sehr toll, ich würde immer wieder gehen. Mein Russisch hat sich verbessert, sagte man mir.“ Wissend, dass eine Unterhaltung auf Russisch nicht über Floskeln hinaus gehen würde.
„Was denkst du über unserer Gruppe?“ „Weiss nicht genau, jede der vier Wochen gingen Leute und kamen neue, ... Was sich durchgezogen hat, war eine Grundhaltung – die Leute waren neugierig, erleichtert den Alltag hinter sich zu lassen und motiviert zu lernen. Es gab auch merkwürdige Momente.“ Wir trinken von unserem Bier und schauen auf die rostigen Stahlfässer im Innenhof herab.
„Die eine Amerikanerin hatte es nicht leicht. Wir ‚Deutschen‘ würden anscheinend zu wenig lächeln und die ‚Letten‘, ...“. Achselzuckend: „Ja, sie hatte auch Pech. Sie kam direkt an eine Frau, die mit ihrem Russisch nicht zufrieden war und kein Englisch konnte, das artete in einen Streit aus. Ich hatte eigentlich gute Erfahrungen mit den Leuten, aber an das Nicht-lächeln musste ich mich auch gewöhnen und sobald man mit den Leuten ein wenig länger spricht, wird gelächelt, einfach gezielter.“ „Wir hatten auch schwierige Begegnungen“. „Ach, als wir versuchten auf Russisch zu bestellen?“, eine junge Frau mit orangen Lidschatten in einem Kaffee, erinnern wir uns. „Ja, wir fragten, ob wir es versuchen dürften und sie meinte kühl, warum wir bitte Russisch lernen wollten.“ „Du bist ein wenig erschrocken.“, „Ja natürlich.“. Das Tageslicht, immer noch hell für unser Zeitempfinden, verschwindet langsam und es wird dunkel. „Aber es war okay, sobald ich sagte, dass wir von der Uni aus lernen.“
Unsere Sitznachbarn stehen auf und gehen an uns vorbei. Der letzte strauchelt und stützt sich an dem Knie meiner Gesprächspartnerin ab, schaut zu ihr hinunter und meint bedächtig: „Sorry“. Er richtet sich auf, eine langsame Bewegung, genauso kontrolliert wie das Straucheln und Abstützen, und folgt seinem Freund zu der Treppe des Podestes. Wir lachen laut.
Rachel Seger